Über Vorsätze

Zwischen den Jahren, das ist diese Zeit, in der man beim Bäcker plötzlich lange Gespräche führt – mit den Kunden vor einem und hinter einem und mit dem Bäcker dann auch noch mal. Alles dauert sehr viel länger, und alle wollen jetzt wirklich sehr viel weniger essen. Man nickt. Man versteht sich. Alle haben das Gleiche durchgemacht. Weihnachten und 2017. Man wünscht sich gegenseitig nur das Beste. Geht nach Hause, setzt sich an den Schreibtisch mit dem Ausblick über die ganze Stadt, um dann mit dem Federkiel „Fünf Vorsätze für das nächste Jahr“ auf das Papier zu kratzen.Punkt 1: Häufiger mit dem Bäcker reden, schreiben Sie gerade, und genau hier möchte ich Sie unterbrechen.

1. Begreifen Sie, was ein Vorsatz wirklich ist.

Sie werden Ihre neuen Vorsätze, wie alle anderen Vorsätze der vergangenen Jahre, auch nächstes Jahr wieder nicht einhalten. Und das hat seinen Grund. Jahresvorsätze sind gar keine Vorsätze in dem Sinne. Seien Sie ehrlich zu sich. Jahresvorsätze sind nichts als Trost. Sind süße, kleine Pflaster für Ihre Macken, aufgeklebt in einer schwerelosen Zeit, nach schwerem Essen.
Wenn Sie noch in diesem Jahr extreme Flugangst hatten, die sich immer so äußerte, dass Sie wirklich würgen mussten, wenn Sie ein Flugzug auch nur sahen – etwa auf einem Kinderrucksack in der Innenstadt –, und wenn es Ihr Umfeld insgesamt drei Mal geschafft hat, Sie zu einer Flugbuchung zu überreden, und Sie dann mit Mühe, Not, und vier Schnäpsen zum Gate geschoben hat, bis Sie spätestens in dem Moment des Boarding-Beginns weggelaufen sind, dann werden Sie – es tut mir leid – im nächsten Jahr leider nicht Reise-Influencer werden.

Nein.

Erinnern Sie sich: Ihr Totalschaden 2017 für nicht angetretene Flüge betrug 2000 Euro. Von denen nur 300 Euro einem ausgefallenen Air-Berlin-Roundtrip Berlin–New York geschuldet waren. (Dieses Mal hatten Sie aber wirklich einsteigen wollen!)

Und nun wollen Sie natürlich Reise-Influencer auf Instagram werden, obwohl Sie abgesehen, von der Ihr Vorhaben stark beeinträchtigenden Flugangst, eben auch nur 20 Follower auf Instagram haben – von denen einer der Hund und einer das Zwergkaninchen Ihrer Cousine dritten Grades sind.

Ich kann das schaffen, sagen Sie sich.

Ich kriege das hin.

Jawohl ja!

Dann fliegen Raketen, und Alkohol saust durch ihr Blut, und Sie haben vergessen, dass Sie noch nicht mal die To-do-Liste von letzter Woche abgearbeitet haben. Rechnungen? Steuern? Zahlen Sie erst bei der ersten Mahnung oder eben der zweiten, wenn Sie in dem Moment, in dem die erste Mahnung kam, noch so viel anderes auf ihrer To-do-Liste stehen hatten.
Ist nicht das ganze Leben eine To-do-Liste?
Nein.
Jahresvorsätze sind eben keine To-do-Listen, sondern Trostlisten.
Und Trost, das ist nichts anders, als wirklich nett gemeintes Lügen.

2. Statt sich zu trösten, beginnen Sie lieber sich selbst zu beleidigen.

Im Grunde ahnen Sie doch auch, dass nur eine bessere Version von Ihnen Ihre Vorsätze umsetzen könnte, und das ist das Problem – Sie sind die schlechtere Version.
Akzeptieren Sie das. Blicken Sie in den Spiegel.
Sagen Sie sich:
Ich bin ein Angsthase.
Verstärken Sie die Aussage.
Sagen Sie sich: Ich bin ein scheiß Angsthase. Ich werde nie Reise-Influencer. Egal, wie sehr ich diesen Beruf bewundere. Ich wünschte ja schon, man könnte sich im Bus anschnallen.
Ich habe Angst.
Sagen Sie noch mal das Wort „Angst“.
Brüllen Sie es in den Spiegel.
Wenn Sie gut sind, beschlägt der Spiegel dabei.

3. Wandeln Sie die Häme in etwas Positives um!

Kommen wir zu einem positiveren Punkt: Vorsätze sind auch extrem out. Denn Selbstakzeptanz ist extrem modern. Im Grunde findet sich eine Lobby für wirklich alles. Dabei gilt nicht: Du kannst alles sein, was du willst. Sondern: Steh zu dem, was du schon bist, das geht schneller. Wer hat heute noch ein Jahr Zeit für irgendwas? Um das, was Sie jetzt noch als negativ an sich empfinden, in das Positive umzukehren, brauchen Sie im Grunde nur einen Claim.
Etwa: „Angsthasen stehen mit beiden Beinen auf den Boden!“
Machen Sie sich dazu einen Meinungsknopf!
Drucken Sie „Flugzeuge können mich mal“ auf ein T-Shirt.
Und dann gehen Sie mit dieser Einstellung in das Internet.
Das Tolle am Internet: Mit der Einstellung mit der Sie reingehen, gehen Sie auch garantiert wieder raus.
Sie werden dort einige Argumente finden, warum es gut ist, nicht zu fliegen. (Klimawandel! Strahlenbelastung! Economy-Essen!)
Schreiben Sie dazu einen Thread auf Twitter.
Sie werden staunen, wie schnell Sie Gleichgesinnte finden. Follower!
Zwar nicht auf Instagram, aber auf Twitter.
Auch nett, oder?

4. Klammern Sie sich nicht an ein bestimmtes Jahr.

Auch ohne Vorsatz – es ist verrückt – geht ein Jahr nach zwölf Monaten zu Ende. Nur dieses Mal werden Sie bemerken, aus jemandem, der am vergangenen Jahresende noch Trost nötig hatte, ist nun einer geworden, der nicht mehr ganz bei Trost ist. Selbstbewusst pflegen Sie Ihre Neurosen im Internet.Sie sind ganz bei sich angekommen.
Dann kommt Ihre Herausforderung. Eine Einladung Ihrer Cousine dritten Grades. Sie heiratet in New York.
Nehmen Sie die Einladung an.
Aber auf Ihre Art und Weise: Sie reisen mit dem Boot.

5. Der letzte Schritt wird Sie jetzt nicht mehr überraschen.

Natürlich dokumentieren Sie Ihre Überfahrt auf Twitter. An Bord finden Sie weitere Gleichgesinnte. Sie halten Sie in all ihrer Selbstakzeptanz für einen Guru. Kurzhand geben Sie also ein Seminar in „Flugangst-Akzeptanz“. Rechnen Sie damit, schon bald in sämtliche Talkshows des Landes eingeladen zu werden. Denn der Flugangst-Akzeptanz-Coach, der immer überall mit dem Boot anreist, den will natürlich jeder mal gesprochen haben.
Und das alles nur, weil Sie keine Vorsätze mehr haben, sondern vorsätzlich Sie selber sind.
Endlich.