Immer wieder zur Wahl kommt das Thema „Gras legalisieren“ auf den Tisch, denn „Gras legalisieren“ ist ein Thema, das man benutzt, um junge Wähler anzusprechen. Denn wenn man junge Wähler, die ja wie alle Wähler vor der Wahl immer nur mögliche Wähler sind, fragt, wofür sie so sind, also politisch, dann sagen sie: „Gras legalisieren.“ Auch während Angela Merkel auf YouTube live interviewt wurde, tauchte im dazugehörigen Livechat immer wieder ein Kommentar auf, „Gras legalisieren“ stand da, und „Legalize It“ – dazu: Hanfbilder.
Dass sich die Jugend für das Kiffen einsetzt, ist nichts Neues, seit Jahrzehnten schon setzt sich die Jugend für das Kiffen ein, nur die Erwachsenen sind seit Jahrzehnten dagegen, da die Jugend in der Regel aber nur zehn Jahre dauert, kann also festgehalten werden, dass diese K-Frage eine ist, an der man das Alter eines Menschen feststellen kann.
Wer sehr alt ist, erinnert sich nicht mehr an seine Jugend, und auf die besten Argumente – Alkohol ist schädlicher! Entlastung der Konsumenten! Entlastung der Polizei und Gerichte! Steuern sparen! – reagiert das sehr alte Gehirn nur mit: Aber, aber Tradition! Das war immer schon so und soll auch so bleiben. Alkohol ist ein deutsches Kulturgut und Kiffen eben nicht.
Tradition schlägt Logik. Und Totschlagargumente, die gehören totgeschlagen, denke ich, kiffend auf meinem Balkon, auf dem ich mir vorzustellen versuche, in was für einem Land wir leben würden, wenn alles umgekehrt wäre. Wenn Kiffen deutsches Kulturgut wäre, und Alkohol Jugendkultur.
Meine frühste Kindheitserinnerung an das Kiffen wäre also Weihnachten. Meine Familie würde über die Festtage sehr weit gereisten Cannabisharz aus dem Keller holen, welchen sie sowohl zu dem Essen als auch nach dem Essen rauchen würde. Während des Essens wäre uns also allen stets sehr kalt, da man aus Rücksichtnahme auf die Minderjährigen am Tisch die Fenster offen halten würde. Zu später Stunde würde meine Familie dann aber hot boxen, um über Politik zu diskutieren, allerdings nicht hitzig, niemand würde aufstehen oder mit der flachen Hand auf den Tisch hauen, alle wären entspannt und zurückgelehnt. Politikernachnamen würden durch den Qualm wabern. „Birne“, würde zum Beispiel einer sagen, und danach würden sie lachen, alle, aber nicht gemeinsam, hübsch zeitverzögert.
Meine Mutter wäre lächelnd mit dem Kinn auf ihrer Seidenbluse eingeschlafen. Meine Oma würde sich mit wohlmanikürten Fingern einen Spekulatius nach dem anderen zwischen die zartroten Lippen schieben, und meine Tanten würden die Festtagesreste direkt aus dem Kühlschrank essen, und wenn die nicht reichen würden, dann eben auch noch die halbe Deutsche Markenbutter. Jahrelang würden sich zu Weihnachten immer die gleiche Szenen abspielen, irgendwann dann mit der Varianz, dass mein Großvater mir einen Joint hinhalten würde.
Im Hintergrund würden die Weihnachtslieder von Rolf Zuckowski klingen, und Großvater würde sagen:Nicht ziehen, nur mal riechen. Und ich, achtjährig, würde den Joint an die Lippen nehmen und mit dem Mund riechen und dann husten, widerlich, würde ich sagen, und mein Großvater würde sagen, siehst du, Kiffen, das ist nur für Erwachsene.
Deutschland gälte als entspanntes Land
Meine Mutter würde meinen Großvater in Folge stark dafür kritisieren, dass er mir, achtjährig, einen Joint gegeben hat, mein Großvater aber würde abwinken und sagen, dass Kiffen doch nichts Schlechtes sei, dass seine Mutter Hanf sogar noch als Medikament eingesetzt hat, damals im Krieg, warmes Hanfharz erhitzt mit Zucker, dazu gequirltes Ei, damit habe seine Mutter eine ganze Familie gesund gepflegt, damals im Krieg.
Das erste Mal richtig ziehen würde ich mit zehn. Zu Silvester stünde die ganze Familie wieder auf der eingeschneiten Terrasse, um sich um Punkt zwölf von Raketen beschossen gegenseitig am frisch entzündeten Sticky ziehen zu lassen. Glasigen Auges hielten sich die Erwachsenen im Arm, die Kinder würden lärmend um sie herumlaufen. Dieses Mal wäre es meine Mutter, die mir einen kleinen halben Sticky reichen würde, einen, den sie mit ganz viel Salvia gestreckt hätte, damit ich um 12 Uhr mitziehen könnte. Ich wäre sehr stolz, und noch Jahre später würde ich mich an ihren ermunternden Kuss erinnern, den sie mir mit süßem Marihuana-Atem auf die Wange gehaucht hätte.
Deutschland insgesamt gälte als ein sehr entspanntes Land. In jeder Bar, in jedem Restaurant, ja sogar in jedem Café würde gekifft. Sich über 16-jährig abends in Gesellschaft zu treffen und nicht zu kiffen, das hätte etwas Absonderliches. In der Geschenkkultur wäre Cannabis die wertigere Alternative zu Blumen. Rauchwaren würde man zur Geburt des ersten Kindes verschenken, wie auch zu Beförderungen und zu Hochzeitstagen. Manche junge Menschen hätten ihren Marihuanakonsum weniger unter Kontrolle, sie schliefen in Bars ein oder bekämen zitternde Schweißausbrüche auf Feierlichkeiten. Unter den Erwachsenen gäbe es einige, die nicht nur ab 18 Uhr kifften, sondern wahre Kiffer sein würden, also solche, die den ganzen Tag kifften, eben weit vor 18 Uhr, und dadurch viel herumhingen und rote Augen hätten, wozu sie eine leicht indifferente Lebenseinstellung an den Tag legten.
Die Jugend fände das wortwörtlich lahm. „Wo ist denn das Leben in all diesem Herumgehänge“, würden sie in Pink an Hauswände und Bushaltestellen sprühen.Mit 15 würde ich zum ersten Mal hinter der Schulcafeteria ein Glas Champagner trinken. Illegal aus Frankreich, würde meine Freundin sagen, wir würden ganz aufgeregt und redselig und schnell unseren ersten Urlaub ohne unsere Eltern planen. Unsere Reise würde uns natürlich in die Provence führen. Ein magischer Anziehungspunkt für Teenager.
Obwohl wir auf den dortigen Weingütern natürlich alle sehr viel Angst hätten, dass man uns unser Deutschsein anmerken könnte, und sie uns schließlich nur Kindersekt servierten und keinen Champagner. Wir würden maßlos übertreiben. Roséweine trinken und viel Chablis und uns leidenschaftlich übergeben, prügeln und auch sehr viel hemmungslosen Sex haben. Kein Wunder, würden wir denken, dass Alkohol in dem lahmen Deutschland verboten ist. Alkohol, der ist ja auch viel zu wild für Aktenland.
Mit vier Flaschen Chablis und sechs Flaschen Champagner in unseren Sporttaschen säßen wir zitternd im Zug zurück. Einer von uns verlöre die Nerven und schmisse seinen Champagner aus dem Zugfenster – eingerollt in einen weichen Schal, damit der Aufprall nicht zu verräterisch klänge. Aber je älter wir würden, desto mehr schwände der Alkohol aus unserem Leben. Sein wildes Moment würde eben nicht zu unserem Leben im beschaulichen Deutschland passen. Wir würden wie unsere Eltern beginnen, Gras als Genussmittel wahrzunehmen, und in diesem Sinne natürlich einmal im Jahr nach Bayern fahren, um die Wiesn zu besuchen, das, der Name verrät es schon, berühmteste Grasfestival der Welt.
Wir würden zu den schönsten Grasliedern schunkeln und die ganze Nacht rauchen, so viel, bis manche von uns sich neben den Festzelten zitternd übergeben müssten. Dafür würden sie insgeheim sogar noch Applaus bekommen, weil sie es sich so gut gehen lassen, mit all dem Gras. Bayern, das wäre eben das lässigste aller Bundesländer. Hier würde man schon zum Frühstück kiffen, ohne dabei als Kiffer zu gelten. Kiffer – das wäre eben eine Bezeichnung für einen Suchtkranken. Denn man kiffte zwar in Deutschland, würde sich aber Grasraucher nennen und/oder Hanfconnaisseur. Die Männer des bayerischen Landes wären zumeist dünne Hänflinge mit glasigen Augen. Der Wahlspruch der Landespartei, der CSU, einer der laschesten Parteien von allen, würde lauten: „Uns ist’s wurscht!“
Nur eines wäre ihnen eben verrückterweise nicht wurscht, dieses eine Thema, das immer wieder zur Wahl wieder neu aufkäme, seit Jahren, seit Jahrzehnten: „Alkohol legalisieren“ hieße es. Es wäre ein Thema, das man benutzen würde, um junge Wähler anzusprechen. Denn wenn man junge Wähler fragen würde, wofür sie so sind, also politisch, dann würden sie sagen: „Alkohol legalisieren.“ Auch während Angela Merkel auf YouTube live interviewt werden würde, würde im dazugehörigen Livechat immer wieder der Kommentar „Alkohol legalisieren“ auftauchen, „und Legalize It“ – dazu: Weinglas-Bilder.
CDU und CSU würden aber immer weiterhin dagegenhalten; das Grasrauchen kann man mit dem Alkoholtrinken nicht vergleichen, würden sie sagen, das Grasrauchen, das ist deutsche Kultur, das hat uns zu dem gemütlichsten Land der EU gemacht. Deutschland, das ist noch relaxter als Spanien, Italien und Griechenland. Unsere Sonne, die ist grün. Die zumeist jugendlichen Alkoholtrinker hingegen seien aggressiv, das sähe man bei Fußballspielen, wo Alkohol illegal konsumiert würde. Alkohol verleite junge Menschen zu Exzessen und Raufereien, führe zu Unfalltoden und am Ende einer Alkoholsucht nicht selten zum totalen Organversagen. Wo kämen wir hin, wenn wir das legalisieren würden?