01/2021
(1)... hits anders
Unsere Gegenwart scheint nun später tatsächlich Geschichte zu werden. Zeit also, sich in dieser Kolumne die popkulturelle Gegenwart genau angucken. Was passiert. Und wie und warum hängt das alles zusammen?
Drei Beobachtungen:
auf den Punkt
Literatur erscheint 2021 gegenwärtig, wenn sie einfarbig ist und von geometrischen Formen kontrastiert wird. Diese Covergestaltung ist eine Wiederkehr aus 2011. Sowohl Tino Hanekamps, als auch Leif Randts Hit-Romane erschienen damals weiß und mit Viereck auf dem Cover. Randts mittlerweile nostalgiefähige Gegenwartsbeschreibung „Allegro Pastell“ (2020) erschien mit einem Sechseck auf goldenem Grund. Und auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises standen Dorothee Elminger mit pink pulsierendem Ei auf Orange, sowie Olivia Wenzel mit diversen Punkte auf gelbem Grund. In diesen Tagen erscheinen nun Hengameh Yaghoobifarah mit roter Kreis auf Pink, sowie Juliane Liebert mit verrutschtem Rot auf Flieder-Grund.
choose your fighter
Auch musikalisch kristallisieren sich gerade zwei Kontraste heraus. Zwei Arten, von der Gegenwart zu singen. Künstler*innen lassen sich in Aktivist*innen und Hedonist*innen einteilen. Zu den Hedonist*innen gehört Lana Del Rey. CHEMTRAILS OVER THE COUNTRY CLUB heißt ihr gerade erscheinendes Album. Chemtrails sind eine der Hit-Verschwörungstherorien der Neunziger Jahre. Herkömmlichen Kondensstreifen am Horizont wird angedichtet genau das nicht zu sein. Sondern eine absichtliche Absonderung von Chemikalien. Eine Vergiftung. Wie ein Virus. Oder ein Impfstoff.
Im Titelsongvideo beobachtet Del Reys Protagonistin die Chemtrails aus nächster Nähe. Mit Freundinnen. Im sorglos umzäunten Country Club. Ihre Handschuhe sind nicht Latex, sie sind Spitze. Die Hedonist_innen sind es, die eine höhere Affinität haben zu Querdenker_innen zu werden. Denn die brauchen eine Rechtfertigung für ihre gerade inaktuelle Haltung: sozial heiße gemeinsam abhängen. Damit sind sie offen für Okkultes und Esoterisches. Das sie ganz (heil-)praktisch mit dem „Natürlichen“ verwechseln. Del Reys Protagonistin verwandelt sich gen Ende des Song zu einer wild feiernden Werwölfin. Feiern ist heute anders. Ist ziviler Ungehorsam. Und der, war nur gestern links. Die hedonistische Erzählperspektive der Krise erregt Kritik. Also viel Aufmerksamkeit. Viel mehr, als die der Aktivist_innen wie Ani DiFranco, die auf ihrem neuen Album REVOLUTIONARY LOVE singt: „I will see no stranger. Only parts of myself, I don’t know yet.“ Zeilen, die das Miteinander im Abstand sehen. Und langweiliger wirken. Weil sie Schulterschluss mit dem Staat bedeuten. Der heute Vernunft bedeutet. Denn mein gesunder Körper wird dein gesunder Körper sein.
weiche Ziele
Wenn plötzlich alles anders ist, sucht man Schutz. Unterschlupf. In Berlin tragen die Menschen zu aufgeblasenen Airbag-Jacken Schals, die nicht nur um den Hals, sondern auch um den Kopf gewickelt werden. Wie ein Foulard. Wie Audrey Hepburn in den Fünfzigern, die das Tuch damals vom Schmutzabweiser zum It-Piece umdeutete. Ilgen-Nur wickelte sich schon vergangen Herbst ein Tuch um den Kopf. Und der Brexit-Kritiker Slowthai wurde mit seiner Union-Jack-Sturmhaube zum Gegenstand jüngster Pop-Ikonographie. Auf Instagram schickt man sich nun Anleitungen, wie man sich eine Balaklawa – also eine Sturmhaube – strickt, die wie der Foulard den Mund freilässt. Halb Slowthai, halb Hepburn. Verschwindet mit der Balaklawa etwas Chaos. Nicht aus dem Kopf. Aber vom Kopf. Die Haare sind nicht mehr sichtbar. Der Kopf ein bunter Punkt. Ein Cover aus Wolle und FFP2. Lana Del Reys Hedonistin im Country Club wiederum trägt privilegierte Verweigerung: Ein durchlässiger Mundnasenvorhang aus Diamanten. Einen, den sie immer wieder absetzt.
02/2021
(2) … reframing alles
Unsere Gegenwart scheint später nun tatsächlich Geschichte zu werden. Zeit also, sich in dieser Kolumne die popkulturelle Gegenwart genau anzugucken. Was passiert.Und wie und warum hängt das alles zusammen?
Drei Beobachtungen
unmittelbarkeitskunst
Nach Covid-Roman und Lockdown-Album ist gekommen, was kommen musste: der Telegram-Chat-Roman. Der Gegenwarts-Chronist Leif Randt hat nun die Telegram-Gruppe „Hiper DinoDramedy“ erstellt. In der er einen Chat postet, in dem zwei Millennials die Bedingungen für eine gutes – hedonistisches – Leben während der Corona-Krise ausloten. In diesem „Pandemie Pastell“ erfährt man: auf Lanzarote lässt es sich gerade günstig leben. Ein Job im Impfzentrum ist der Shortcut zur Impfe. Und in Mietautos alte Taylor-Swift-Songs hören eine „makellose“ Erfahrung.
kosument*innenverantwortung
Künftig muss Leif Randts „Hiper Dino“-Protagonist achtsam sein, welche Swifts-Songs er in seinem Mietauto streamt. Denn Swift nimmt all ihre vor 2019 erschienen Alben – die, an denen sie nicht die Masterrechte besitzt – nochmal auf. Den Anfang macht FEARLESS von 2008, das nun als FEARLESS (TAYLOR’S VERSION) erscheint. Das Rework ihres Hits Love Story klingt musikalisch klarer und stimmlich kräftiger. Erwachsener! Swift ihre verdienten Tantiemen zu-zustreamen- und nicht irgendeiner Holding – ist also ein doppelter Lustgewinn: moralisch und musikalisch besser.
reframing
Der kulturelle Mainstream befand sich jahrelang in einer Art Pubertät. Impulskontrolle? Rücksicht? Umsicht? Alles eher gering. Nun ist die Welt komplett aus dem Rahmen gefallen. Das Glas gesprungen. Durch den neuen, erwachseneren Rahmen sieht alles anders aus. Das Gestern, stellt man fest, war gar nicht besser. Zum Teufel mit der Nostalgie! Man nehme nur dem Umgang mit Britney Spears. Den, der Medien will man sagen, und sich selbst ausnehmen. Nie hat man Spears „crazy“ genannt. Natürlich nicht. In der „New York Times“ -Dokumentation „Framing Britney Spears“ wird deutlich: Der öffentliche Umgang mit Spears war von Anfang an nicht nur misogyn, sondern psychisch gewalttätig. Eiskalt läuft es einem den Rücken runter, wenn Spears, in aller 2000er-Jahre Selbstverständlichkeit, im Interview mit Diane Sawyer dafür an den Pranger gestellt wird, Justin Timberlake betrogen zu haben. Was falle ihr denn ein? Sei sie so etwa Vorbild für jungeFrauen? In Unterwäsche? Auf dem „Rolling-Stone„-Cover? Immer wieder musste sich die Frau öffentlich entschuldigen. In Tränen ausbrechen. Rechtfertigen, warum sie ihr Baby beim Autofahren auf dem Schoß hatte. Ja, warum? Weil es weinte, als die Paparazzi das Auto umzingelten und gegen die Scheiben schlugen. Sind Sie eine schlechte Mutter, wurde sie im Fernsehen gefragt. Schämen sollte sie sich. Der öffentlich Gewalt verherrlichende Marilyn Manson allerdings musste sich damals nirgends unter Tränen entschuldigen. Er war ja keine Frau. Sondern eine Kunstfigur. Die Reporter darauf erpicht, mit ihm etwas Krasses zu erleben. Zu hören, wie er krass über Frauen spricht. Der Begriff „slut shaming“ war dem Mainstream fremd. Mentale Gesundheit? War auch kein Thema. Spears galt als belustigend „crazy“, als sie auf das Paparazzi-Auto mit dem Schirm einschlug. Das sie zuvor verfolgt hatte. Zur Tu?r ihres Ex. Der ihr den Besuch der zwei, kleinen gemeinsamen Jungen versagte. Das Framing Sozialer Medien ist gerade eben eher schlecht.Dennoch waren sie es, die die Paparazzi-Blase von damals platzen ließen.
03/2021
(3) … mutter, faser, entenfeder
Unsere Gegenwart scheint später nun tatsächlich Geschichte zu werden. Zeit also, sich in dieser Kolumne die popkulturelle Gegenwart genau anzugucken. Was passiert. Und wie und warum lässt sich alles mit Zeilen aus International Music’s ENTENTRAUM* erklären?
Drei Beobachtungen
*all is misery
Rituale soll man sich schaffen. Im Post-New-Normal-Life. Sich jeden Abend auf seine Akrupressurmatte legen und etwas lesen, hören, schauen, dass einem an ein sorgenfreieres Gestern erinnert. Wie Dawson’s Creek auf Netflix. In dem eine der Schülerinnen eine Jugendzeitschrift aufschlägt, um einen Purity-Test zu machen. Wie pure bist du, fragten sich amerikanische Teenager *innen Ende der Neunziger. Also wie möglichst wenige sexuelle Erfahrung hast du? Boy, did times change.
Gäbe es heute noch Jugendzeitschriften würden sie vermutlich Adorons F-Skala-Test drucken: Wie möglichst unautoritär bist du? Wie wenig klassistisch, ableistisch und rassistisch ist dein Weltbild? Inwieweit konntest du dich – mit eigener Bildungsarbeit – von den Strukturen, in denen du lebst, emanzipieren? Das Neunziger Elterngeneration-Tabu Heterosex wurde vom Pop derart gebrochen, dass es nun sogar aus Titel des „Sex and the City“-Reboots gestrichen wurde: „And just like that“ wird es heißen.
*die Sprache ist eklektisch. as you and me.
Wie möglichst un-autoritär bist du, fragt sich auch der Schriftsteller-Protagonist Christian Kracht in „Eurotrash“. Der Autofiktion, die seinen Neunziger Jahre Hit „Faserland“ fortsetzen, beziehungsweise umschreiben soll. Ihn von dem damaligen Zeitgeist in den heutigen übersetzen soll. Ihm die tiefere Ebene gegeben soll, die man in den Neunzigern immer nur wohlwollend hineininterpretieren musste. In die Leerstellen Sex, Partys und Barbour-Jacken. Darunter geht es natürlich um Deutschland, das Nazi-Erbe, Vergewaltigung, Mutter, Vater, Schmerz. Denn niemand ist ein Individuum. Sondern hineingeboren in ein System. Eine Familie.
*der Wahsinn ist symmetrisch, er dreht mich im Kreis
So wird einem wirklich ein bisschen schwindelig, wenn man sich die Dokumentation „The world is a little blurry“, über Billie Eilishs Arbeit an ihrem Debütalbum, ansieht. Eilish musiziert mit ihrem Bruder. Zuhause im Bett. Immer umgeben von ihren Eltern, die sie in die Kamera sagen lässt, wie sehr Eilish früher Justin Bieber angehimmelt hat. Eilish lässt sich von ihren Eltern filmen, während die sie wecken, um ihr von ihren Grammy-Nominierungen zu erzählen. Man erlebt eine Künstlerin, die in ihren Eltern kein Strukturen sieht, die es zu zerstören gilt. Da ist kein Uncool. Keine Scham und kein Tabu. Eilish kann sie selbst sein. Ohne Pose. Offen mit der Mutter über Selbstmord-Gedanken reden. Es sind Gespräche, wie sie der Kracht-Protagonist wahrscheinlich, nie mit seiner Mutter führen können wird. Eilish sagt ihre Eltern, haben alles richtig gemacht. Die Zuschauerin auf ihrer Akrupressurmatte weint: How pure is that?
04/2021
(4 ) … deep cleaning
Unsere Gegenwart scheint später nun tatsächlich Geschichte zu werden. Zeit also, sich in dieser Kolumne die popkulturelle Gegenwart genau anzugucken. Was passiert. Und wie und warum hängt das alles zusammen?
Drei Beobachtungen
verbotene früchte
„Das Gramm“ heißt ein Magazin, in dem immer genau eine Kurzgeschichte erscheint. Auf dem Cover der gerade erschienen Ausgabe „Grüne Orangen“ sind Zitronen. Denn „Grüne Orangen“ ist eine Metapher auf die Schönheit des Mangels von der Schriftstellerin Lisa Krusche, die beim ersten pandemischen Bachmann-Wettbewerb 2020 den Deutschlandfunk-Preis gewann. Zitronen sind auch auf den Stickern, die Porridge Radio zum ersten Geburtstag von EVERY BAD verkaufen. Und Zitronen zieren die Single-Cover von International Music’s Wassermann und Misery. Wenn dir das Leben eine Pandemie gibt, kannst du immerhin noch Kunst daraus machen, die nicht so gefallsüchtig ist wie Orangen. Nicht auf einen Hit aus. Sondern einfach die Künstlerin auf einer Zitronenpresse ausgequetscht. Wie St. Vincent auf DADDY’S HOME. Dem Album, auf dem sie sich durch die Platten ihres Vaters spielt. Steely Dan und Stevie Wonder dreht sie durch die Gitarren. Beherrscht sie. Mühelos. Tschilpend, wie ein Vogel. Serviert sie ihren Tochterpain als Limonade mit bitterem Zuckerrand. Aber leidet sie auch genug? Für ihr Geschlecht. Wie Tori und Joni vor ihr gelitten haben? Ist sie nicht nur eine ruhig gestellte „Benzo Beauty Queen“? Benzodiazipine können helfen. In Tagen sauerer Nachrichtenlagen.
songs from the bottom
Neben besonders drucklosen, frei drehenden Alben etablierter Künster*innen, gibt es zur Zeit auch einige künstlerische Keller- und Dachbodenreinigungen. Joni Mitchell hat Ende letzten Jahres ihre allerersten Aufnahmen als Box verkauft. Paul Simon gerade seinen ganzen Katalog an Sony. Nur Taylor Swift veröffentlicht keine Songs aus dem Keller, bei ihr kommt das alte Material immer aus der sogenannten Vault – also aus dem Tresor. Wer keine alten Songs mehr rumliegen hat, der lässt sich selbst von anderen covern. Paul McCartney hat McCARTNEY III – das Album voller Songs, die lange bei ihm rumlagen – nun von anderen Künstler*innen covern lassen. Den besten Song – Women And Wives – hat sich St Vincent vorgenommen. Sharon Van Etten hat ihr 2010er Album EPIC als EPIC TEN covern lassen – von unter anderem Fiona Apple. Bob Dylan (80) braucht niemanden zu bitten ihn zu covern. Stella Sommer, Benedict Wells und Judith Holofernes coverten seine Songs in Kurzgeschichten für die Anthologie „Look Out Kid“ von Maik Brüggemeyer.
they put my head in a deep cleaning ich-machine
Judith Holofernes ist längst nicht mehr nur Sängerin. Sie schreibt. Online. Drucklos. Über die Zeit nach dem Ruhm. Lesen kann man sie, wenn man per Patreon zwischen 3 und 100 Euro dafür bezahlt. Patti Smith schreibt nun einen Newsletter auf Substack. „The reader is my notebook“ heißt er. Er verspricht ein druckloses Dahinschmelzen von Wörtern. Wörter, nur von diesen Seiten selbst gekannt, schreibt Smith. Sieben Euro kostet ihr Automatisches Schreiben. Es ist bezahlte Selbstreinigung. Sie duftet nach Zitronen. Wie TikTok. Wo sich junge Menschen unter dem Hashtag #deepcleaning daran berauschen, wie sauber es bei ihnen zu Hause ist. Reinlichkeit hat dieser Tage nichts zwanghaftes mehr. Sie ist Self Care. Nichts wird mehr unter den Teppich gekehrt. Alles ausgewrungen, man lässt sich dafür bezahlen. „I wanna be loved“ singt St Vincent bei Saturday Night Live. Auf ihrem Rücken steht: Daddy.
05/2021
(5 ) … how dare you?
Unsere Gegenwart scheint später nun tatsächlich Geschichte zu werden. Zeit also, sich in dieser Kolumne die popkulturelle Gegenwart genau anzugucken. Was passiert. Und wie und warum hängt das alles zusammen?
Drei Beobachtungen
alles von der kunstfreiheit gedeckt
Billie Eilish trug schwere Ketten zu Baggy Shirts und Shorts, zu bunten Haaren und großen Ringen. Wie ihr Boyfriend, der Schwarze Rapper Q, von dem sie sich trennte. Diese Ära – und die ihres ersten Albums – wurde gerade mit einer Apple-TV-Doku beschlossen. Nun kommt ihr neues Album – HAPPIER THAN EVER – und die weiße Billie Eilish ist blond. Trägt in der britischen VOUGE erstmals keine weite, bunte Baggy-Kleidung, sondern enge, weiß-hautfarbende Dessous. Ihr Foto in Unterwäsche wird zu dem 4. meist geliktem Foto auf Instagram.
2020 schrieb Zariah Taylor für das Gen-Z-Portal voxatl.com den Essay „We need to talk about Billie Eilish“, da die sich – wie etliche weiße Künstler*innen vor ihr – Schwarze Codes aneigne, die in ihrer Weißverwaschenheit dann Mainstream würden. Taylor erinnert an 2013, als Miley Cyrus auf BANGERZ twerkte und African-American Vernacular English benutze, welches sie zu Gunsten weißem Countrys auf YOUNGER NOW wieder ablegte. Die von Kopf bis Fuß be-logo-te Baggy-Bekleidung geht auf den Modedesigner Dapper Dan zurück, der in den Achtzigern und Neunzigern, die dem HipHop damals noch fernen Designer-Logos screenprintete um Harlem darin zu kleiden. LL Cool J gehörte zu seinen Kund*innen. Mike Tyson, Salt-N-Peppa und Jay-Z. 1992 musste Dapper Dan seinen Laden schließen. Wegen Urheberrechtsverletzung.
2017 ließ sich der italienische Gucci-Desinger Alessandro Michele von Dapper Dans Designs in so großem Umfang inspirieren, dass Gucci Dapper Dan schließlich eine Kollaboration anbot. 2020 gewann Billie Eilish fünf Grammys – in baggy Gucci-Logo – während Schwarze Künstler*innen wie Lizzo, Beyoncé und Lil Nas X gegen sie verloren. Eilish dazu: sie sei peinlich berührt. 2021 gewann sie wieder – baggy Gucci bekleidet – dieses Mal vor Megan Thee Stallion. Im Video zu ihrer neuen Single „Your Power“ hat Billie Eilish nun die schwere Ketten, Baggy Shirts und Shorts abgelegt, und kleidet sich wie ihr Umfeld: grau, wie die Felslandschaft in der sie singt: „Try not to abuse your power. Will you only feel bad when they find out?“
düsseldorf-zu-oxford-culture
Das Diskurspop-Buch der Stunde heißt „Identitti“. Mithu Sanyal erzählt darin die Geschichte der weißen Sarah Vera, die als Indisch gelesene Dozentin Saraswati zur Ikone wird. Als ihre Herkunft auffliegt ist Twitter in Rage, ihre Karriere dennoch nicht beendet. Im Gegenteil: Saraswati wird von Düsseldorf nach Oxford befördert. In „Identitti“ lässt Sanyal viele Identitätspolitische Fragen unser Zeit in drei Sätzen zusammenlaufen: Cultural Appropriation ist ein Spektrum. Irgendwo innerhalb dieses Spektrums befand sich der Punkt an dem Annäherung in Aneignung umschlug. Und Solidarität in Egoismus.
oury-jalloh-kapuzenpullover
Eines der zentralen Kleidungsstücke des pandemischen Zeitalters ist der Hoodie. Ursprünglich gedacht war er als Kühlhausarbeiterbekleidung. In den späten Siebzigern wurde er vom HipHop entdeckt: als angenehm anonymisierendes Versteck zum Ausführen illegaler Tätigkeiten wie Graffti Sprühen. 2021 zeigt der weiße Schriftsteller Leif Randt sich und seine Freund*innen mit sorgsam unter dem Kinn geknoteten Kapuzenbandschleifchen auf Instagram. Während Girl in Reds Coverartwork zu IF I COULD MAKE IT GO QUIET ein weißes Wesen im roten Hoodie ziert. Ein blauer Hoodie wiederum ist das zentrale Element von Lucy Dacus Video „Home Video“, das in einem leeren Kinosaal spielt. Leere Kino- und Konzertsäle sind Pandemie bedingt beliebte Videodrehorte. Auch Danger Dan hat seinen „Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt“-Hit in einem leeren Konzertsaal gedreht. In der Klavierballade prangert er die Tötung des schwarzen Oury Jalloh durch einen sächsisch-anhaltischen Polizisten an. Seine Namen hat Danger Dan – der ursprünglich mal bei der Düsseldorfer Antilopen Gang weißen Rap machte – natürlich von Dapper Dan entlehnt.
06/2021
(6)… she soft, she radical
Unsere Gegenwart scheint später nun tatsächlich Geschichte zu werden. Zeit also, sich in dieser Kolumne die popkulturelle Gegenwart genau anzugucken. Was passiert.Und wie und warum hängt das alles zusammen?
Drei Beobachtungen
always ultra
Zwei Gegensätze bestimmen die Gegenwart: soft und radikal. Wie anstrengend diese Gegenwart ist, lässt sich daran ablesen, dass es besonders gegenwärtig ist, beide Pole zu vereinen, also radical soft zu sein. Seinen Gefühle derart freien Lauf zu lassen, dass das Aushalten der eigenen Schwäche zur Stärke wird. Ursprünglich ist Radical Softness eine queere Bewegung, die das Ziel hat, die maskulin dominierte Auslegung von Stärke zu zersetzen. Der britische Produzent Kindness machte 2019 einen Song daraus: „Softness as a Weapon“. Dessen Titel auf die Künstlerin Lora Mathis zurückgeht, die 2015 ein Bild veröffentlichte, das drei Messer um Buchstabenperlen herum zeigt, die „Radical Softness As A Weapon“ ausbuchstabieren. Perlenketten mit Buchstaben – wie sie früher nur Babys im Krankenhaus trugen – sind gerade en vogue. Die Feministische Kolumne der Stunde heißt „Freie Radikale“ (Teresa Bücker) und ein viel geteiltes Sachbuch „Radikale Zärtlichkeit – Warum Liebe politisch ist“ (?eyda Kurt), während sich auf Spotify die Playlisten mit Softness im Titel häufen und es im TikTok-Hit „Soft“ des Kreuzberger Rappers Pashanim heißt: Saka Wasser kauf‘ ich oft, Vapormax, ich laufe soft.
social medis
Radikal und Soft sind auch die Determinanten nach denen Social Media funktioniert. Ein Beispiel: Als die offen ADHS diagnostizierte Schriftstellerin Kathrin Weßling in einer Insta-Story bekannt gab, ihre zweite Covid-Impfung zu erhalten, wurde sie radikal angegangen. Sie evoziere Neid, hieß es. Und Weßling verteidigte sich, postete ein Foto ihrer zahlreichen Medikamente. Psychische Krankheiten werden von der breiten Masse noch immerunterschätzt. Gelten als „nicht ganz so schlimm“ – wie die vermeintlich organischeren Krankheiten – jedenfalls nicht schlimm genug für Impf-Prio-Gruppe-2. Sie mache das nicht gerne, schrieb Weßling, das Offenlegen ihrer Medikation sei mit Angst und Scham belegt. Radikalität – so lässt sich an dieser Begebenheit gut ablesen – provoziert Softness, provoziert, dass man sich von seiner verletzlichsten Seite zeigt. Vielerorts wird derzeit gepostet, man sei erschöpft von den Sozialen Medien, erschöpft vom radical/soft Bildschirm-Life, dass so viele Monate beinahe alternativlos war.
deja-vu
Da der hochkantige Handy-Bildschrim uns stärker und stärker bestimmt, hat er auf die vielfältigste Arten und Weisen seinen Weg in den Pop gefunden. Im Guardian regt der Journalist Dorian Lynskey die Überlegung an, dass die Tatsache, dass es heute mehr Solo-Künstler*innen denn Bands gibt, damit zu tun haben könnte, dass sich Bands nicht so gut auf schmalen Bildschirmen darstellen lassen. Fritzi Ernst – vormals Teil des Duos Schnipo Schranke – lässt das Video zu ihrem Chanson „Trauerkloß“ im hochkant Story-Format beginnen, nur um dann im Breitbild einen Trauerkloß-Filter in Instagram-Ästhetik um das Gesicht herum zu tragen. Olivia Rodrigos omnipräsentes High-School-Rock-Video „Good 4 You“ beginnt mit einem sichtbaren Ringlichtkreis in ihrem Augen – YouTube-Ästhetik –bevor sie durch eine Reihe von Klapphandys betrachtet wird, die im Zuge der 2000er Nostalgie von Samsung und Motorola gerade wieder neu aufgelegt werden. Man kann also sagen: Olivia Rodrigio verhält sich zu Avril Lavigne wie ein Samsung Galaxy Z Flip 5G (2021) zu einem Moto Razr VR (2004).Als Miley Cyrus im vergangenen Jahr mit PLASTIC HEARTS Pop-Rock herausbrachte, hieß es seitens der Kritiker*innen noch, das sei völlig aus der Zeit gefallen. Nun aber ist nicht nur Rodrigio überall, auch der Eurovision Song Contest 2021 wurde von Pop-Rock gewonnen: Måneskin rief mit seinem Kajaleffeminierten Sänger Erinnerungen an early 2000s Ville Valo (HIM) wach. Eigentlich sollte die Wiederkehr des Pop-Rock aber keine Überraschung sein, ist er doch vor allem eins:
radikal soft.
07/2021
(7 ) … Zucker, Puppe
Unsere Gegenwart scheint später nun tatsächlich Geschichte zu werden. Zeit also, sich in dieser Kolumne die popkulturelle Gegenwart genau anzugucken. Was passiert.
Und wie und warum hängt das alles zusammen?
Drei Beobachtungen
tongue-in-cheek-tronic
Urlaub nennt man auf Instagram nicht mehr Urlaub sondern Urli. Drangsal hat derweil mit EXIT STRATEGY Urli von sich selbst genommen. Hat den Post-Punk hinter sich gelassen, um eine Platte aufzunehmen, die Schlager, Pop-Punk und Tocotronic eint. Angenehm verlowtzowte Verse („Ich will Ungeheuer streichlen, die Dunkelheit bleichen“) treffen auf Drangsals Intonation, die wie immer an Farin Urlaub erinnert. Weswegen der Titel seiner Single „Urlaub von mir“ auch als Tongue-in-cheek-Kritik an seinen Kritiker*innen gelesen werden kann. „Liedrian“ hingegen klingt mit seinem „Scheißegal, ich liebe dich“-Refrain, wie 2000er-Rock mit Stückchen, die mal Wolfgang Petrys waren. „Mädchen sind die schönsten Jungs“ hingegen ist mit Tocotronics „Zucker“ (2015) verwandt. Dem Song über einen gender-bending Liebesakt: „Du bist aus Zucker, du bist zart, du schmilzt dahin, du wirst nicht hart“. Drangsal singt nun: „Betrachtet in Hormonspiegeln, bist du ein Buch mit sieben Sigeln, komm sag dich frei von x and y“.
Die lyrische Verwandtschaft kommt nicht von ungefähr: Dirk von Lowtzow hat an EXIT STRATEGY mitgeschrieben.
nutri score der lust
Weibliches Begehren im Spiegel der Ernährung ist in der Literatur gerade Thema. In Dorothee Elmigers „Aus der Zuckerfabrik“ (2020) wird Tocotronics „Zucker“ zitiert, um das unerfüllte Verlangen der namenlosen Protagonistin zu illustrieren. Beim Bachmann-Wettbewerb lasen in diesem Jahr gleich zwei Autorinnen Texte, in denen Sehnsüchte über Nahrung verhandelt werden. In Julia Webers „Ruth“ wird eine vom Alltag geschundene Frau, nach einem Himbeer-Regen zwischen den Schenkeln einer Anderen zu Butter. In Dana Vowinckels Text „Tränen im Ziplock“ werden „Alte“ und „Neue Welt“ über das Frühstück erzählt: „Joghurt mit Stückchen von etwas, das mal eine Kirsche gewesen sein soll“ (Jüdische Großeltern in Chicago) vs. „Peffermakrele und cremiger Fetakäse“ (Jüdische Eltern in Berlin). Um einen Joghurt in der „Neuen Welt“ geht es auch in dem Roman „Muttermilch“ (2021) von Melissa Broder, der Essen, als die einzig mögliche Lust im LA Office Life beschreibt. Leider ist die Protagonistin aber eine Frau, weswegen ihr zum Exzess nur der Subway-Salat „ohne Sauce“, sowie ein Peanutbutter-Geschmack emulierender, fettfreier Joghurt bleibt. Der orthodoxe Joghurtverkäufer befüllt den Joghurtbecher zum Glück nur bis zum Kalorien kalkulierten Strich. Aber dann übernimmt seine Schwester – die „schlechte Jüdin“ – überfüllt den Becher und garniert ihn mit Zuckerstreuseln. Und auf „Zucker“ folgt auch hier „Mädchen sind die schönsten Jungs“: es kommt zum Tongue-on-Clit.
fallobst
Dass Kinder in Deutschland keinen hohen Stellenwert genießen, weiß man spätestens seit Corona und den fehlenden Luftfiltern in Kitas und Schulen. Man kann ihren Stellenwert aber auch an der zögerlichen Aufklärung von sexueller Gewalt in Kinderheimen und Kirche ablesen. „Immer auf die Kleinen“ (Peter Alexander) – das ist deutscher Pop. Margarete Stokowski fragt in ihrer Spiegel-Kolumne: Woher kommt der Kinderhass? Und findet die Antwort: aus der Misogynie. Till Lindemann – der, die deutsche Seele seit Jahren so brachial wie treffend vertont – stimmt ihr in seiner Single „Ich hasse Kinder“ zu. Er macht das durch den Spiegel der Nahrung: „Der Schreihals turnt jetzt her und hin. Die Mutter spricht stumm zum Kind, während sie liest und dabei einen Apfel isst.“ Natürlich, der Apfelbiss! Deswegen ist weibliches Begehren Sünde, deswegen fettfreier Joghurt und deswegen sollen auch die Früchte weiblicher Lenden auf dem Boden der Gesellschaft vergären. Wo ist die EXIT STRATEGY um Adam und Eva zu entkommen?
gedanken zum gegenwärtig*innen wurde 2021 mit dem International Music Journalism Award ausgezeichnet
Die Kolumne erscheint monatlich in Musikexpress